Slowthai HHV Records 6 Artikel

Grime-Beats und lyrische Manie

Wir schreiben das Jahr 2019: der EU-Ausstieg Großbritanniens ist in vollem Gange, das Wort Brexit treibt die internationalen Timelines an und verhärtet die politischen Fronten im Land. Inmitten dieses politischen Chaos veröffentlicht Tyron Kaymone Frampton aus Northampton sein Debutalbum und fällt mit seinen keinesfalls subtilen Lyrics auf: dass der Titel der Platte Nothing Great About Britain lautet, lässt uns schon ahnen, was der Rapper mit dem Namen Slowthai von der politischen Lage hält. Seine wachsende Fanbase sorgt im gleichen Jahr für eine Nominierung des renommierten Mercury Prize, bei dessen Verleihungskonzert er einen präparierten Kopf hochhält, der Premierminister Boris Johnson gleicht: „Fuck Boris Johnson, fuck everything, and there ain’t nothing great about Britain.“ Jahre vor seinem nationalen Durchbruch beginnt Frampton 2011 ein Studium in Music Technology, doch sein Herz schlägt hauptsächlich im selbstgebastelten Studio eines Freundes – dort nimmt er seine ersten Tracks auf, wenn er sich nicht gerade mit Gelegenheitsjobs durchschlägt. Die Sessions tragen ihn zu seiner ersten Singleveröffentlichung Jiggle im Jahr 2016, und die erste EP I Wish I Knew erscheint auf einem kleinen Indie-Label ein Jahr später. Auf düsteren Grime-Beats schlägt Slowthai sich hier mit ungebändigter Flow-Energie durch bedrohlich wie manisch wirkende Lyrics, und auch seine wildgewordenen Live-Auftritte sorgen mittlerweile für Furore.

Revolutionäre Politik und revolutionäre Musik

Bei Method Records bringt er 2018 die RUNT EP und ein Jahr später Nothing Great About Britain heraus, was ihn auf den vierten Platz der BBC-Liste Sound of 2019 befördert – die Jugend fängt an, sich für Slowthais direkt-aggressiven Polit-Rap zu interessieren. Sein selbsterklärtes Ziel ist es nämlich unter anderem, dass die jungen Briten sich ihrer politischen Kraft bewusst werden – sein Freund und Producer Mura Masa beschreibt es so: „Es gibt zwei Dinge, die man braucht, wenn Regierungen für die Menschen nicht funktionieren: revolutionäre Politik und revolutionäre Musik.“ Dass Kunst und Revolution Hand in Hand gehen, beweist Slowthai nicht nur mit Boris Johnsons Kopf bei seinem Mercury-Prize-Auftritt – zur Promotion des Debutalbums plakatiert er in ganz London und präsentiert dabei Fakten rund um die gestiegene Ungleichheit im Land seit dem Referendum 2016. Zu Recht meint Frampton dazu: „Was macht es schon aus, dass wir einer Union angehören, wenn wir die Probleme in unserem eigenen Land nicht lösen können?“ Sein radikaler Hass gegen die politischen Brexit-Protagonisten ist nämlich kein plumper, sondern zeigt sich begründet in den Umständen seinen täglichen Lebens – seine vaterlose wie isolierte Kindheit reflektiert Slowthai in Tracks wie Northampton’s Child und betont damit die persönliche Dimension der sozialen Schwierigkeiten, die allseits vom Brexit-Gewirr überschattet werden.

Künstler statt Politiker

2020 laden die Gorillaz den jungen Engländer auf den Track Momentary Bliss ein, und im gleichen Jahr gewinnt er einen NME Award als Hero of the Year, wobei sein Auftritt im Rahmen der Zeremonie auf Twitter viral geht, nachdem Slowthai erst die Stand-Up-Moderatorin anzüglich anspricht und sich danach beinahe mit einem Zuschauer prügelt. Der Vorgeschmack auf seine zweite Platte TYRON im Jahr 2021 ist dementsprechend bitter, doch mit einem introspektiven und vor Pop Elementen nicht zurückschreckenden Werk reißt er das Ruder für seine mittlerweile millionenstarke Zuhörerschaft herum: Frampton nimmt eine Fortsetzung des revolutionären Erstlingswerks in Angriff, und die Platte bildet einen Spiegel der Neuanfänge, auf dem er die eigenen psychischen Probleme reflektiert und gleichzeitig Größen wie Skepta, A$AP Rocky und James Blake auf Gastparts versammelt. Und noch mehr als mit seinen politischen Aktionen polarisiert der Künstler auf seiner dritten Platte UGLY im Jahr 2023 mit seinen musikalischen Entscheidungen: Experimente mit paranoiden Electrobeats finden sich neben Grunge-Gitarren und Indie-Pop-Balladen – die eigenen Selbstzweifel stehen dabei oft im lyrischen Vordergrund. Von der rein politischen Anti-Brexit-Ebene seiner frühen Tage hat Slowthai sich längst verabschiedet, denn er will vordergründig als Künstler wahrgenommen werden. „Ich war niemals ein Politiker“, das sagt er selber.